Diese Lösung ist unter dem Begriff der „Epikie"
(griechisch: Billigkeit) kirchenrechtlich vertretbar: Sie erst ermöglicht
die pastorale Regelung auf Gewissensebene („im „forum internum",
im inneren Bereich), nachdem die Überlegungen der Synode von Basel selbst von
Rom nicht anerkannt worden sind. Epikie bedeutet, über die Absicht des
Gesetzgebers hinaus sei nach höherem Recht zu fragen. Lt. Thomas von Aquin
ist Epikie eine „Tugend" als Korrektur des Gesetzes gemäß dem Naturrecht
zur besseren Verwirklichung der Gerechtigkeit im Einzelfall. Epikie hat im Laufe
der Kirchengeschichte eine Entwicklung durchgemacht; sie baut auf der sittlichen
Eigenverantwortung jedes Menschen auf: Es ist dem menschlichen Gesetzgeber nicht
möglich, alle künftigen Situationen der Menschen, die von einem Gesetz betroffen
sind, im Voraus zu berücksichtigen, so dass Situationen eintreten können,
in denen nicht das Verhalten gemäß dem Kirchengesetz, sondern ein davon
abweichendes Verhalten nach Gewissensprüfung sachrichtig ist. Epikie
bedeutet daher nicht das schlaue Umgehen der gesetzlichen Forderung, sondern das
Streben nach der Situationsrichtigkeit. Seelsorger, die in dieser Weise
die Epikie anwenden, verstoßen also nicht gegen die kirchlichen Gesetze und ihre
gebräuchliche Interpretation, bezeugen aber, dass sie auf den jeweiligen
Einzelfall nicht immer anzuwenden sind.
Österreichs „Familienbischof", Diözesanbischof DDr.Klaus
Küng, hat die Epikie als für konkrete Enzelfälle auf der pastoralen Ebene als
grundsätzlich anwendbar erklärt, und zwar in einem KATH.NET-Interview vom 23
03 2003 als „moralisch begründete Ausnahme" im „forum internum". Wenn er dies
zwar hier lediglich auf nicht beweisbare Annullierungsfälle bezieht, so ist doch
klar ersichtlich, dass die Epikie ein kirchenrechtlich vertretbares
Instrumentarium für die Behandlung von Einzelfällen auf der pastoralen Ebene
darstellt!
Auch unser nunmehriger Heiliger Vater, Papst Benedikt
XVI., hat in einem Aufsatz aus dem Jahr 1972 zum Sakramentenempfang für
wiederverheiratete Geschiedene die rhetorische Frage gestellt: „Wird das Anders-Können
hier nicht zur Pflicht der Barmherzigkeit, des recht verstandenen ‚Evangeliums’?"
Weiters heißt es: „Wo eine erste Ehe seit langem und in einer für beide Seiten
irreparablen Weise zerbrochen ist; wo ungekehrt eine zweite Ehe sich über einen
längeren Zeitraum hin als sittliche Realität bewährt hat und mit dem Geist des
Glaubens, besonders auch in der Erziehung der Kinder, erfüllt worden ist (so
dass die Zerstörung dieser zweiten Ehe eine sittliche Größe zerstören und
moralischen Schaden anrichten würde), da sollte auf einem
außergerichtlichen Weg auf das Zeugnis des Pfarrers und von Gemeindemitgliedern
hin die Zulassung der in einer solchen zweiten Ehe Lebenden zur Kommunion
gewährt werden." Es folgt dann noch eine Ausführung von „zwei Gründen", die
„von der Tradition her gedeckt" seien, wobei u.a. die Unzulänglichkeiten in
Annullierungsverfahren erwähnt werden, sowie der „Typus von Nachsicht" bei
Basilius, die „Barmherzigkeit Gottes, der die Buße nicht unbeantwortet lässt",
und die Einsicht, dass „praktisch Enthaltsamkeit keine reale Möglichkeit" sein
kann: „... wenn also aus moralischen Gründen das Aufgeben der zweiten Ehe
unstatthaft ist und andererseits praktisch Enthaltsamkeit keine reale
Möglichkeit darstellt (magnorum est, sagt Gregor II.,), scheint die Eröffnung
der Kommuniongemeinschaft nach einer Zeit der Bewährung nicht weniger als
gerecht und voll auf der Linie der kirchlichen Überlieferung zu sein: Die
Gewährung der communio kann hier nicht von einem Akt abhängen, der entweder
unmoralisch oder faktisch unmöglich wäre."
(Zitiert aus: Joseph Ratzinger, Zur Frage der
Unauflöslichkeit der Ehe. Bemerkungen zum dogmengeschichtlichen Befund und zu
seiner gegenwärtigen Bedeutung, in: H.Heinrich u. V.Eid, Ehe und Ehescheidung.
Diskussion unter Christen, Kösel, München 1972, 35-56; Hervorhebungen fett von
der Autorin)
Irene Heise
Nachträgliche Erläuterung zum Artikel von I.Campbell-Wessig, „Geschiedene
Wiederverheiratete - Kein Zutritt zum Tisch des Herrn"
in: KIRCHE IN, August 2006 |