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Als Einfühlung bezeichnet die Phänomenologin Edith Stein das Bemühen des Menschen,
das Erleben anderer Menschen zu erfassen. Dazu gehören das eigene Ich (das
Subjekt) und das fremde Ich, das Du (das Objekt), welche durch eine
Gefühlsgemeinschaft miteinander verbunden sind. Einfühlung ist somit die
Erfahrung vom fremdem Bewusstsein. Im Mittelpunkt steht das Ding,
die Befindlichkeit des Objektes (also etwa seine Freude, sein Schmerz).
Das Ich ist an Leib und Seele gebunden. Interessant ist, wie Edith Stein
den eigenen Leib sieht: Sie bezeichnet ihn als „unentwegt aufdringlich“,
da er immer da ist. Ich kann mich ihm nicht nähern oder mich von ihm entfernen,
wie bei jedem anderen Objekt, und ich sehe seine Rückseite nicht. Verändere ich
meinen Standpunkt, nehme ich meinen Leib notwendigerweise immer mit.
Ich kann aber in der Phantasie aus meiner Haut schlüpfen, kann in Gedanken
anderswohin gehen. Damit hat sich das Ich verdoppelt und ich bin in der
Phantasie aus der Haut gefahren - der erste Schritt zur Einfühlung!! Das Ich
dort in der Ecke mit seinem Phantasieleib kann auf meinen wirklichen Leib
herüberschauen wie auf alle anderen Menschen oder Dinge im Zimmer.
Genauso spannend ist es, wie Edith Stein die Seele sieht: als einen Raum,
in deren Mitte das Eigentliche des Menschen zu finden ist, Gott. Das Ich
ist als ein beweglicher Punkt zu denken, der sich immer zwischen der Oberfläche
und dem Inneren hin und her bewegt. Es ist lebenslange Aufgabe des Ich, immer
näher an das Innere der Seele, Gott, hineinzugehen. Dazu ist es nötig, sich
stets aufs Neue zu befreien von sündhafter Verstrickung und Ablenkungen. Je
tiefer ein Mensch in seinem Innersten, bei Gott, lebt, umso mehr wird er auch
fähig zur Hingabe in Empathie.
Edith Stein unterscheidet drei Stufen der Einfühlung:
- Das Objekt mit seinem „Ding“ (etwa die geballte Faust des anderen) tritt
mir gegenüber;
- Ich vergegenwärtige mir die Stimmung des anderen - das Objekt hat mich
jetzt in sich hineingezogen. Ich bin in dieser Phase nicht mehr dem Objekt
gegenüber, sondern bin in diesem Objekt, an dessen Stelle – das
Herzstück der Einfühlung;
- Ich habe die Situation abgeklärt - habe die geballte Faust als Äußerung
des Zornes verinnerlicht. Nun trete ich wieder heraus aus dem Objekt, stehe
ihm wieder gegenüber.
Nun wollen wir uns ein wenig die „Dinge“, die Gefühle anschauen.
Gefühle sind grundsätzlich zu unterscheiden von ihrem Ausdruck: die
geballte Faust z.B. ist Ausdruck des Gefühls Wut, der Jubel Ausdruck der Freude,
die gerunzelte Stirn Ausdruck der Nachdenklichkeit oder des Ärgers - hier kann
wieder nur Einfühlung Klarheit schaffen.
Gefühle müssen sich Ausdruck verschaffen, da sie mit einer Energie
geladen sind. Oft ist der Ausdruck nicht möglich, muss zurückgehalten werden. So
etwa kann ich niemandem vor Wut den Hals umdrehen, wenn mein Gefühl es mir auch
so eingibt. Diese Handlung kann ich aber in der Phantasie vollziehen. Das
Schaffen einer anderen Welt, in der ich in der Realität verhindert bin, stellt
nach Edith Stein auch eine Form des Ausdrucks dar.
Nun zu den Gefühlen selbst. Sie werden am Leib „mitgesehen“, z.B. also
unsere geballte Faust. Edith Stein spricht den Gefühlen vier Dimensionen
zu:
- Die Tiefe: Gefühle sind in verschiedenen Tiefenschichten des Ich
verankert, manche in tieferen, wie Liebe, manche in weniger tiefen, wie etwa
bloße Zuneigung.
- Die Reichweite: Die Schicht, bis zu der ich ein Gefühl „vernünftigerweise“
vordringen lasse.
- Die Dauer: Wie lange mich ein Gefühl ausfüllen darf. Auch sie ist von der
Gefühlstiefe abhängig und unterliegt Vernunftgesetzen. Beim psychisch gesunden
Menschen erlischt ein Gefühl nach einer gewissen Zeit, ohne zerstörerisch zu
wirken, etwa unerwiderte Liebe.
- Die Intensität: Grundsätzlich kommt dem größeren Wert das stärkere Gefühl
zu, aber nicht immer. So berührt uns z.B. für gewöhnlich ein kleiner Unfall in
unmittelbarer Nähe mehr als eine Katastrophe in einem anderen Erdteil.
Gefühle äußern sich in Symbolen und Signalen. So ist etwa die
ungewollt geballte Faust Symbol für Wut, der spontane Jubel Symbol für Freude.
Symbole wirken unbewusst, hingegen Signale willentlich angewendet werden: Ich
kann die Faust dem anderen auch bewusst hinhalten um zu signalisieren: So wütend
bin ich auf dich. Signale beinhalten also ein Moment des Sollens, eine Zumutung,
welche beim Symbol wegfallen: der spontane Jubel „soll“ nicht Freude bedeuten.
Verständnisprobleme kann es hier geben, ich kann bloße Symbole als Signale
missverstehen, was im Leben oft vorkommen und zu schweren Missverständnissen
führen kann!
Unsere Einfühlung ist weitgehend an ein Festhalten an unseren eigenen Typ
„Mensch“ gebunden: Ich kann mich als Frau hineinversetzen in Männer- oder
Kinderhände. Bei der Pfote eines Hundes als Säugetier ist Einfühlung auch noch
relativ gut möglich. Aber je weiter wir uns vom Typ Mensch entfernen, umso
schwieriger wird die Einfühlung.
Wo wir in der Einfühlung unsere individuelle Beschaffenheit statt unseres Typs
zu Grunde legen, sind Einfühlungstäuschungen möglich. Fühle ich etwa
einem Unmusikalischen den Genuss einer Symphonie ein, wird diese Täuschung erst
schwinden, sobald ich in seinem Gesicht Langeweile gewahre. So ist das einfache
Schließen auf andere kein taugliches Mittel zur Einfühlung. Wer Einfühlung
gering schätzt, meint zumeist dieses bloße Schließen von sich auf andere!!!
An dieser Stelle noch einmal zum Akt der Einfühlung selbst als sehr
komplexem Geschehen: Sehe ich etwa eine fremde Hand auf dem Tisch vor mir,
vermag ich zu unterscheiden, ob sie gestreckt oder entspannt daliegt. Es schiebt
sich gleichsam meine Hand an die Stelle der fremden und empfindet nun die
Empfindungen mit. Während dieses Hineinversetzens wird die fremde Hand als Glied
des fremden Körpers wahrgenommen, die eigene als Glied des eigenen Leibes ist
aber tatsächlich gegeben, so dass sich die eingefühlten Empfindungen ständig in
Kontrast zu den eigenen als fremde abheben.
Wesentlich in der Einfühlung ist auch die Beziehung des anderen zu den
Dingen seiner Umgebung: Es ist z.B. etwas Anderes, ob ich etwa beim Nähen
eine Nadel in ein Stück Stoff einführe, oder ob ich jemanden mit dieser Nadel in
die Hand steche! Obwohl der mechanische Vorgang derselbe ist: das Hineinstechen.
Die Hand - im Gegensatz zum Stück Stoff - empfindet Schmerz, und ich „sehe“
diese Wirkung, weil ich die Hand als empfindende sehe und mich einfühlend in sie
hineinversetze. Hier wird, denke ich, besonders klar, welch ein komplexes
Geschehen Einfühlung ist!
Manchmal ist es nötig, unsere Einfühlung zu korrigieren: Fühle ich etwa
einem Verwundeten beim Anblick einer Wunde Schmerz ein, gewahre gleich darauf
aber in seinem Gesicht eine fröhliche Miene, so sage ich mir, dass er im
Augenblick wohl keinen Schmerz haben kann. Es ist aber auch eine andere
Korrektur denkbar: dass der Ausdruck des Schmerzes willkürlich zurückgehalten
ist!
Es gibt nun auch Sonderfälle bei der Einfühlung. So etwa die
Gefühlsansteckung: Wenn wir selbst auch vielleicht immun dagegen sein mögen,
können wir etwa im Theater folgende Beobachtung machen: Auf der Bühne ist die
Szenerie sehr emotionsgeladen, ein Schauspieler untermalt die Stimmung noch mit
den Worten: „Nur Schluchzen hört man ringsum!“ Da kann es passieren, dass man im
Zuschauerraum tatsächlich ringsum verhaltenes Schluchzen vernimmt!
Was Edith Stein damals noch nicht wissen konnte: Dass die Gefühlsansteckung mit
der Weiterentwicklung der Medien und in Zeiten der Globalisierung eine immense
Bedeutung gewinnen würde! Denken wir nur an Katastrophen, nach denen via
Fernsehen Millionen Menschen durch Weckung von Mitgefühl zu Millionenspenden
mobilisiert werden können – um nur die positiven Anwendungen der
Gefühlsansteckung durch die Medien zu erwähnen!!
In der Nähe der Gefühlsansteckung ist auch das Einsfühlen angesiedelt:
Und zwar dann, wenn ein Ereignis viele auf einmal betrifft. Alle, die es sehen
oder hören, erfasst Freude oder Bestürzung, je nachdem. Trotzdem alle dasselbe
fühlen, fallen aber nicht die Schranken zwischen dem Ich und Du. Ich fühle meine
Freude, meine Bestürzung, und einfühlend erfasse ich zugleich das Gefühl der
anderen. Aus dem Ich erhebt sich auf einmal das Wir als Subjekt des Einsfühlens.
Wir freuen uns über dasselbe, was unser Fühlen bereichert. Aber wir bleiben
trotzdem Ich und Du. Einsfühlen ist nicht Einfühlen.
Zu differenzieren ist auch der geschulte Blick eines Arztes. Er verdankt
es nicht nur der Einfühlung, dass er an verschiedenen Symptomen eine Depression
zu diagnostizieren vermag. Es ist vielmehr auch sein Wissen bzw. seine
Erfahrung, dass ihm ein bestimmtes klinisches Bild eine bestimmte Diagnose nahe
legt. Lange Übung führte bei ihm zu kultivierter Einfühlungsgabe, die hier aber
meist auf der ersten Stufe der Einfühlung stehen bleibt und nicht mehr zum
Hineinversetzen in den krankhaften Zustand fortschreiten muss.
Was mir für meine Arbeit für Menschen in Situationen des Scheiterns ganz
besonders wesentlich ist, betrifft die Einfühlung in Menschen mit psychischen
Defekten: Edith Stein hat auch darüber etwas gesagt!
Die psychische Krankheit eines Menschen tritt besonders im Umgang mit seinen
Gefühlen zu Tage. Wir haben schon gesagt, dass beim psychisch Gesunden ein
Gefühl allmählich erlischt, wenn es die Kräfte zu übersteigen droht, z.B.
Liebeskummer. Beim psychisch Kranken kann es dagegen zu einem psychischen
Kollaps kommen. Hier ist also ein Übersteigen der psychischen Kräfte
eingetreten einem bei Menschen, der nicht in der Lage ist, mit seinen Gefühlen
hauszuhalten. Er erliegt seinen Gefühlen immer wieder unter
beträchtlichem Leidensdruck - oft unverstanden von seiner gesünderen Umwelt, die
diesen leidenden Menschen dann als hoffnungslos überspannt und hysterisch
belächelt.
Ein Anliegen in allen meinen Arbeiten ist es deshalb, auf die Leiden solcher
Menschen aufmerksam zu machen, sie differenziert darzustellen und um Verständnis
für sie zu werben, damit sie endlich echte Heimat und Geborgenheit finden können
in der Kirche - Menschen, die psychisch schwächer und instabiler sind als
Gesunde und deswegen immer wieder scheitern.
Die Arbeit an der phänomenologischen Dissertation war zweifellos ein Meilenstein auf Ediths Weg
zum Christentum. Edith Stein hat in ihren philosophischen Reflexionen
erfahren, dass sich die Frage nach dem Sein im Spannungsfeld zwischen Wissen
und Glauben bewegt. Die Antworten der Philosophie und des Glaubens ergänzen
sich derart, dass die letzte Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins keine
von beiden ausschließen kann, was vereinfacht heißt: Es ist möglich, vom
Denken zum Glauben zu gelangen. Später noch wird sie am Beispiel des
Kirchenlehrers Thomas von Aquin lernen, dass es sogar möglich ist,
Wissenschaft als Gottesdienst zu betreiben. Deshalb kann man heute als
zentrale Botschaft von Edith Stein ihre Fähigkeit charakterisieren, Denken und
Schauen einzubringen in das Leben mit Gott, ja Reflexion und Kontemplation zur
Spiritualität zu verschmelzen.
(Irene Heise)
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